Einleitung

Der Anfang ist unsere Heimat… so der Titel einer Aufsatzsammlung des Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald W. Winnicott 1). Gemeint ist mit diesen Worten die Kindheit. Für manche Menschen löst das Versprechen, das in diesem schönen Bild liegt, sich ein. Für andere hingegen nicht oder doch nicht so, dass sie sich, der Kindheit entwachsen, in ihrem Leben beheimatet sehen könnten.
Die Ursachen sind vielfältig. Sie liegen in durch eigene Konflikte begrenzten seelischen Möglichkeiten vieler Menschen, Lebensbeginn und Entwicklung ihrer Kinder so zu gestalten, dass diese sich aufgehoben und für das Leben gestärkt fühlen können. Ebenso häufig liegen sie in verstörenden äußeren Einflüssen wie einem Krieg oder anderen einschneidenden und nicht verarbeiteten Erlebnissen und den damit verbundenen Verlusten an Sicherheit und Vertrauen in das Leben. Hinzu kommen gegenwärtig Veränderungen und Verwerfungen im gesellschaftlichen Gefüge - hohe Scheidungsraten, Auflösung herkömmlicher familiärer Strukturen, eine problematische Verzahnung bildungspolitischer Ziele mit wirtschaftlichen Belangen, mediale Überflutung, um nur einige solcher Entwicklungen zu nennen. Sie stellen Erziehungsvorstellungen und Erziehungsstile - und damit das Bemühen um ein gesundes Aufwachsen von Kindern - vor Herausforderungen, die den Einzelnen vielfach überfordern. Eltern, Kindergärten und Schulen sind auf diese Entwicklungen nicht ausreichend vorbereitet. Initiativen zur Verbesserung dieser Situation vollziehen sich häufig überstürzt, widersprüchlich und unzureichend durchdacht, und Kindheit und Jugend werden durch den damit verbundenen Orientierungsverlust mehr als zuträglich belastet. In entscheidenden Phasen kindlicher Entwicklung steht dann die haltende und fördernde Umwelt nicht mehr zur Verfügung, von der Winnicott in seinen Schriften immer wieder spricht.

Schaut man jedoch genauer hin, lässt sich in dem einprägsamen Wort vom Anfang als Heimat auch ein in die Zukunft weisender Aspekt erkennen: ein den Anfängen innewohnender Zauber, von dem Hermann Hesse in seinem Gedicht Stufen spricht. Ein Aufbruchsimpuls, der über anfängliche Zweifel hinweg trägt und Hoffnung entstehen lässt, das, was im Leben fehlte und eine schmerzliche Leere hinterließ, werde sich mit neuem Inhalt füllen lassen.
Von einem Anfang in diesem Sinne ist auf diesen Seiten die Rede. Ich verdanke ihn der Psychoanalyse, deren verändernde, Eigenverantwortung fördernde Denk- und Vorgehensweise vielfach noch immer Unkenntnis, Missverständnis und Abwehr ausgesetzt ist. In verhältnismäßig hohem Alter (Ende 69-74) unterzog ich mich einer analytischen Psychotherapie. Das damit zusammenhängende Arbeiten galt der Suche nach einem tragfähigen Lebensfundament, das aus unterschiedlichen Gründen, unter anderem durch Folgen des Zweiten Weltkrieges, früh verloren gegangen war. In diesen Jahren wurde etwas, das ich zuvor nur oberflächlich durch Lektüre kannte, zu einer berührenden und erhellenden konkreten
Erfahrung.
Die auf diesen Seiten vorgestellten Veröffentlichungen zeichnen einen Weg zum Verständnis des Menschen nach, wie ich ihn in dieser Arbeit gegangen bin - einfühlsam und haltend, jedoch auch kritisch begleitet von einem Analytiker, der die Widersprüche in meinen Vorstellungen und Haltungen aufdeckte, mir half, die oft problematischen seelischen Antriebskräfte zu verstehen und zu ordnen, und Bestrebungen nach Eigenständigkeit, Selbstvertrauen und schöpferischem Umgang mit den eigenen Möglichkeiten anregte und förderte. Die Arbeiten erzählen - anhand persönlicher Erfahrung - von der Auseinandersetzung mit den theoretischen Annahmen der Psychoanalyse über den Menschen, seine seelische Entwicklung, seine Bedürfnisse, Bedingtheiten und Begrenzungen, seine Irrwege und Konflikte. Sie berichten über die Inhalte analytischen Arbeitens, ihre Zumutungen an Einsicht und Selbsterkenntnis und ihre großen emanzipatorischen Möglichkeiten.

Ich wende mich jedoch in meinen Arbeiten nicht nur an Menschen, die an seelischen Konflikten leiden und versuchen möchten, sie zu verstehen und zu beheben. Ich verstehe die psychoanalytische Sichtweise und ihren methodischen Ansatz in einem umfassenderen Sinn.
Denn wenn man den analytischen Behandlungs- und Arbeitsprozess nicht nur unter klinisch-therapeutischen Aspekten, also unter dem Vorzeichen seelischer Erkrankung betrachtet, dann beinhaltet er darüber hinaus konzentriertes, um Ehrlichkeit sich selbst gegenüber bemühtes Nachdenken über die eigene innere Erfahrung mit ihren besonderen lebensgeschichtlichen Prägungen und ungelösten Fragen. Angesichts der Überflutung mit Bildern und fremder Erfahrung, der wir heute oft ausgesetzt sind, ohne uns davor schützen zu können, bietet dies eine Möglichkeit, sich in Ruhe und ohne Ablenkung mit sich selbst, den aus frühen Lebenskonflikten herrührenden Fehlhaltungen, Begrenzungen und Verlusten und mit den auch im Alter noch bestehenden Möglichkeiten auseinander zu setzen, Lebenszufriedenheit zu erlangen.

Die psychoanalytische Theorie ist zudem ein bedeutsamer Teil unserer Kultur, auch wenn ihre spezifische Herangehensweise vielfach missverstanden und abgelehnt wird. In ihren Erkenntnismöglichkeiten geht sie über individuell-therapeutische Aspekte hinaus. Sie kann auch bestimmte Seiten gesellschaftlicher und politischer Konflikte gut erklären, indem sie deren Ursachen zurückführt auf elementare konfliktträchtige Neigungen im Menschen: Minderwertigkeitsgefühle und kompensierende Größenvorstellungen, mangelndes Bewusstsein für die eigenen Grenzen, latente Feindseligkeit, Neid und destruktive Konkurrenzgefühle. Wo solche Empfindungen nicht wahrgenommen und zugegeben werden dürfen, der Einzelne ihre Herkunft aus kindlicher seelischer Not nicht versteht und mit ihnen als Erwachsener später nicht umzugehen weiß, sind sie eine große Belastung für das einzelne Leben und wirken letztlich - durch den dadurch verursachten problematischen Umgang miteinander - bis tief in die gesellschaftlichen Strukturen hinein.
Das Wissen über das, was in analytischer Arbeit geschieht und worum es eigentlich geht, beruht vielfach auf unklaren Vorstellungen. Die Folge sind Skepsis und Abwehr - vor allem gegenüber dem analytischen Bemühen, Unbewusstes - darunter auch Unangenehmes und Ängstigendes - aufzudecken. Aber als Patient steht man, meist ohne sich dessen bewusst zu sein, unter dem oft bedrohlichen Druck verdrängten Erlebens aus der Kindheit und späteren belastenden Folgeereignissen. Wenn es gelingt, durch Erinnern und Aussprechen, mit Hilfe von Träumen und inneren Bildern und gelenkt von den Deutungen und Klarstellungen des begleitenden Therapeuten Zugang zu den abgespaltenen Gefühlen zu bekommen, lässt dieser Druck nach. Es öffnen sich Freiräume sowohl für eine bessere Wahrnehmung der Wirklichkeit wie des eigenen Wertes und vielleicht lange verschütteter Gestaltungsmöglichkeiten.
Besonders für den älteren und alten Patienten kann die Last der Vergangenheit, wo sie das Leben hinderte und beschädigte, erdrückend sein. Aber am Ende lässt das Vergangene sich bereitwilliger annehmen. Es erschließen sich neue Quellen der Freude, der Zuversicht und befriedigender Aktivität. Die große - im Alter zunehmende - Bedeutung naher menschlicher Beziehungen und eines toleranteren, einfühlsamen Umgangs mit anderen wird sehr bewusst.
Sicherlich steht am Ende einer analytischen Behandlung nicht ein neuer Mensch. Der oft langjährige problematische Umgang mit sich selbst und anderen hinterlässt in der inneren Welt tiefe Spuren, und das Arbeiten an Fehlhaltungen und realitätsfremden Vorstellungen bleibt eine lebenslange Aufgabe. Auch Heimat im Sinne haltender und fördernder Umwelt, wie sie eine ungestörte Kindheit hätte bieten können, wird sich in den späten Jahren nicht mehr so leicht erschließen.
Aber in einer gelingenden Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Patient entstehen neue und positive Beziehungserfahrungen, mit denen frühere konfliktreiche Erfahrungen gleichsam überschrieben werden können. Und es mag gelingen, zurück zu finden zu den seelischen Quellen, und damit zu einer neuen Erfahrung von Zuversicht und Freude auch dort, wo dies bisher resigniert als verschüttet oder endgültig versiegt wahrgenommen wurden - zu den eigenen Kräften, Stärken und Begabungen, zu mehr innerer Ruhe und einem vertieften Verständnis für das Wesentliche in einem Leben.
Angesichts der demographischen Veränderungen und ihrer Folgen, die sich in vielen Bereichen immer deutlicher abzeichnen - aber auch im Hinblick auf individuelle Verlusterfahrungen, körperliche Einbußen und andere im Alter als schmerzhaft erlebte Begrenzungen - kommt dem Vertrauen, dass auch dann noch Entwicklung möglich ist, Bedeutung zu - für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, die aus diesen Einzelnen besteht und deren innere Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit auf sie angewiesen ist.

Kindheit und Alter im gegenseitigen Bezogensein

Ich möchte mich jedoch bei meinen Überlegungen nicht auf eine Betrachtung und Würdigung des Alters beschränken, sondern - wie stellenweise in meinen beiden Büchern - auch den Gegenpol, die Kindheit, in den Blick nehmen - jenen Anfang im Sinne Winnicotts, der das Potential für gelingendes Dasein in sich trägt, dessen freie Entfaltung aber dann so oft und so nachhaltig behindert wird.
Man gewinnt gegenwärtig den Eindruck, dass seelische Störungen in Kindheit und Jugend zunehmen. Zum Teil beruht dies auf vertieftem Wissen über Reifungsprozesse und sie fördernde und störende Bedingungen und auf verbesserten diagnostischen Verfahren, die es erlauben, Konflikte rechtzeitiger zu erkennen und zu benennen. Hinzu kommen jedoch die zu Beginn dieses Textes genannten Ursachen und die Schwierigkeiten, deren Folgen, soweit sie sich schädigend auswirken, auf breiter Ebene aufzufangen. Fortschritte auf der einen Seite scheinen so bisweilen durch erschwerende Entwicklungen auf anderen Gebieten aufgehoben.
Im Alter hat therapeutisches Arbeiten vornehmlich kurativen Charakter. Störungen und Verwundungen, die bereits geschehen sind, werden erkannt, verstanden und, soweit möglich, behoben, damit ein Patient sein Leben wieder in die Hand nehmen kann. Aber im Verlauf einer Psychotherapie schärft sich der Blick nicht nur für zurückliegendes persönliches Leid, sondern zugleich für gesellschaftliche Veränderungen und deren problematische Seiten vor allem für Kinder und deren noch nicht abgeschlossene und daher störbare Persönlichkeitsentwicklung. Dann schiebt sich der Gedanke der Prävention immer nachhaltiger in den Vordergrund.
Elternhaus, Kindergarten und Schule bezeichnen das Umfeld, in dem Kindheit und Jugend gelebt wird und die erwachsene Persönlichkeit sich allmählich ausformt. Immer deutlicher zeichnet sich die Notwendigkeit ab, die Erkenntnisse der verschiedenen psychologischen Richtungen und ihrer Denk- und Behandlungsansätze zur gedeihlichen Entwicklung von Kindern entschiedener in die erziehenden Institutionen hineinzutragen. Auf lange Sicht befähigte dies Menschen, die mit der Sorge um Kinder und Heranwachsende betraut sind, Störungen frühzeitig zu erkennen und wirksame Hilfe zu suchen und anzubieten, bevor Fehlentwicklungen sich verfestigen.
Zurzeit ziehen sich tiefe Bruch- und Erschütterungslinien durch das gesellschaftliche Gefüge. Auf vielen Ebenen ist man bemüht, ihre Richtungen zu erkennen, Ursachen und Bedeutung zu erfassen und Strukturen zu entwickeln, die unzuträgliche Folgen auffangen und neuen Halt geben können. Veränderungsprozesse können wertvolle Entwicklungs- und Freiheitsräume öffnen. Aber sie beinhalten auch Gefahren und führen zu Verunsicherungen, die wahrgenommen werden müssen und denen angemessen begegnet werden muss - ein Prozess, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt sind und ihn behindern oder aktiv fördern können.
Zu spät erkannte und ungenügend behandelte seelische Erkrankungen verursachen in den betroffenen Familien gravierendes und andauerndes Leid. Auch führen sie zu Folgekosten, die umso schwerer zu bewältigen sein werden, je länger die Gesellschaft die Augen verschließt vor den unbewältigten Folgen tief reichender Veränderungen und den Schwierigkeiten für betroffene Familien, sich mit ihnen allein, ohne frühzeitige fachliche Unterstützung auseinander zu setzen.
Initiativen, die sich dieser Problematik zielgerichtet und auf breiter Ebene annehmen - ich nenne hier vor allem die 2009 neu gegründete Stiftung "Achtung! Kinderseele. Stiftung für die psychische Gesundheit von Kindern" - bedürfen der ideellen und materiellen Unterstützung aller, die sich in den Inhalten dieser Projekte mit ihren eigenen Sorgen und Zweifeln wiederfinden und darüber nachdenken, wie der wachsenden Verunsicherung und dem Bedürfnis nach Hilfe wirksamer begegnet werden kann als bisher.
Das Verständnis für das, was gutes Altern bedeuten könnte, ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Aber die Fähigkeit, das Alter anzunehmen und es trotz zunehmender Einschränkungen sinnvoll zu gestalten, hängt zusammen mit frühen unterstützenden Kindheitserfahrungen, aus denen Zuversicht und Selbstvertrauen erwachsen ist. Es besteht eine enge Beziehung zwischen gelingender Kindheit und erfülltem Alter, und beide Lebensphasen beziehen aus diesem Bezogensein Inhalt, Bedeutung und Sinnzusammenhang. Sie bedürfen der Aufmerksamkeit und Sorge Einzelner und der Gesellschaft und eines Bewusstseins für ihre gegenseitige Abhängigkeit im Hinblick auf ein zuversichtlich und schöpferisch geführtes Leben.


1) Donald W. Winnicott (1989,2009): Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen
Entwicklung des Individuums. Aus dem Englischen von Irmela Köstlin.
2. Auflage 2009. Stuttgart: Klett Cotta